16. Juli 2010

Leserkommentare gegen Geld: The Sun Chronicle

Die US-amerikanische Tageszeitung (Massachusetts) verlangt für die Platzierung eines Leserkommentars ab sofort 99 US-Cent. Was vor allem als Spam-Schutz gedacht ist, hat für den Verlag eine Reihe positiver Nebeneffekte und könnte ein Lackmußtest für Nachahmer sein.

Die in Massachusetts erscheinende Tageszeitung The Sun Chronicle hat ein neues System für Leserkommentare eingeführt. Was nicht besonders aufregend klingt, ist dennoch ein Novum, denn zur Registrierung ist neben der Angabe einer E-Mail-Adresse auch eine Kreditkartennummer und die einmalige Zahlung von 99 US-Cents notwendig. Ziel ist es, den „intelligenten und themenbezogenen Meinungsaustausch“ zu fördern. Außerdem sollen Link-Spammer und Trolle abgeschreckt werden.

Die einmalige Mini-Zahlung könnte unter Umständen tatsächlich ein probates Mittel sein, um das Niveau der Kommentarbeiträge zu erhöhen. Allerdings sollen bei dem neuen System des „Sun Chronicle“ Kommentatoren bei ihren Beiträgen mit dem auf der Kreditkarte aufgeführten Vor- und Nachnamen sowie ihrem Wohnort genannt werden. Das geht dann wahrscheinlich doch etwas zu weit.

Der Vorteil direkter Kommentare

Eine der erfreulichsten Entwicklungen bei der Verlagerung der Nachrichtenberichterstattung ins Netz ist die Möglichkeit, dass Leser umgehend ihre Sicht der Dinge darlegen können. Früher war ihnen das verwehrt. Sie konnten lediglich den Journalist oder seinen Verlag anrufen und ihr Herz am Telefon ausschütten. Im günstigsten Fall wurden sie darauf verwiesen, einen Leserbrief zu schreiben. Dieser wurde dann – ebenfalls wieder im günstigsten Fall – einige Tage nach dem Erscheinen des zugehörigen Artikels abgedruckt. Die erste Aufregung über das Thema war bis dahin im Allgemeinen schon wieder abgeebbt. Einfluss auf die Meinungsbildung nahm der Kommentator so kaum.

Das ist heute anders: Leser können wenige Minuten nach Erscheinen eines Beitrags reagieren, auf aus ihrer Sicht nicht berücksichtige Aspekte oder Zusammenhänge hinweisen, und das eine oder andere Mal sicherlich auch Fehler kritisieren. Außerdem können sie sich mit anderen Lesern austauschen, auf deren Kommentare antworten oder Antworten auf ihre eigenen Kommentare bekommen. Im Idealfall profitieren davon alle: Das Medium, der Journalist und die Leser – wenn sie sich auf das Abenteuer einlassen, eine andere als ihre eigene Meinung zuzulassen und anzuhören.

Verlust der Anonymität

Problematisch an der vom Sun Chronicle gewählten Vorgehensweise ist, dass die Anonymität komplett aufgehoben wird. Die Zeitung will „intelligenten und themenbezogenen Meinungsaustausch“. In Wirklichkeit sind aber eben nicht alle Diskussionen „intelligent und themenbezogen“. Da braucht man sich nur einmal an den Stammtisch in der Kneipe an der Ecke zu setzen. Dennoch sind auch solche Gespräche mitunter unterhaltsam. Während aber in der Kneipe – eben weil keiner mitschreibt – auch unpassende oder rückblickend unintelligente Äußerungen gewagt werden können, müsste man sich im Web einen im Affekt getätigten Kommentar noch Jahre später unter die Nase reiben lassen.

Im Netz ist ein Pseudonym daher durchaus in Ordnung. Die einmalige Zahlung von 99 Cent scheint mir dagegen für Stammleser kein ernsthaftes Hindernis zu sein – kein größeres jedenfalls, als eine Registrierung. Was denken Sie?

Über Monetarisierungsstrategien der Verlage wurde in den letzten Jahren ebenso viel diskutiert wie über das Thema User Generated Content. Im Fahrwasser dieser Diskussion schwammen dabei fast zwangsläufig auch immer wieder die Themen Qualitätsjournalismus, Paid Content und Interaktion mit dem Leser mit. Der aktuelle Versuch des „Sun Chronicle“ vereint diese Themen. Lesermeinungen können hier ab sofort nicht mehr einfach so unter den Artikeln platziert werden, sondern müssen für 99 US-Cent eingekauft und mit dem Echtnamen versehen werden. Interessant finde ich vor allem die Reaktionen auf dieses einzigartige Vorgehen. Wer nun erwartet hat, dass bei Heise & Co. die Gefahr des Verlusts der freien Meinungsäußerung thematisiert wird oder Hohn und Spott ob des neuerlichen Paid Content Vorhabens kursieren, muss sich getäuscht sehen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Offenbar finden sich gerade hier einige Forenmoderatoren oder auch schlicht von überflüssigen bis böswilligen Kommentaren genervte Leser.

Auch ich stehe diesem Projekt durchaus positiv gegenüber. Zum Einen sehe ich die Chance, Leser zu mehr Respekt und Substanz aufzufordern. Zum Anderen steht der freien Meinungsäußerung ja überhaupt nichts im Weg. Wer wirklich will, kann weiterhin kommentieren, was er liest – beispielsweise so, wie ich es hier (mit dem eigenen Blog und Posterous) exemplarisch mache. Ganz nebenbei entledigt sich der Verlag der mitunter zeitintensiven Moderation und gibt die rechtliche Verantwortung an die Kommentatoren selbst zurück. Ich wage zu bezweifeln, dass der Sun Chronicle durch diesen Schritt tatsächlich signifikant an Reichweite einbüssen wird. Was er hier vielleicht verliert, sind – überspitzt gesagt – Webseitenbesucher, die unter den Artikeln eigene Angebote promoten (die Kommentarfunktion also als plumpes Suchmaschinen-Marketing missbrauchen) und notorische Nörgler, die sich in der Regel nicht aus dem Schutz der Anonymität herauswagen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr kann ich dieser Idee abgewinnen. Warum der Sun Chronicle seinen Abonnenten den Service allerdings nicht im Rahmen der Leserregistrierung nicht als Mehrwert anbietet, bleibt offen – und überlegenswert für Nachahmer.

Posted via email from christophsalzig’s posterous

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