26. April 2013

Peer-To-Nerds: Von Steinbrück bis Reed – das Spektrum der NEXT Berlin 2013

Die NEXT Berlin versteht sich selbst als Agenda Setting Conference. An einigen Stellen ist ihr das auch tatsächlich gelungen. Dennoch gibt es noch einiges zu tun, um den Platz in der Landschaft der europäischen Digitalkonferenzen den eigenen Stellenwert hervorzuheben und zu zementieren. Ein persönliches Fazit nach zwei Tagen NEXT Experience.

Die NEXT hat in ihrem achten Jahr einen weiteren Umzug bewältigt. Dieses Mal innerhalb Berlins. Ja, die Station Berlin war zu groß und ist auf deutlich mehr Teilnehmer ausgelegt. Ja, es ist schwer in Berlin eine gut gelegene und doch angemessene Location für derartige Branchentreffen zu finden. Das BCC ist – abgesehen vom Dome, dem großen Kuppelsaal – jedoch hierfür meines Erachtens nicht geeignet. Auch wenn die Infrastruktur (Technik, Catering, Logistik, zentraler Standort und sogar das WLAN) passt, dem Veranstaltungsort fehlt es schlicht an Herz und Seele. Wer jemals die Picnic, The Next Web, partiell LeWeb besucht hat, weiß was ich meine. Es muss nicht immer Industrieambiente sein, um urbanen Charme zu vermitteln. Die kühle Businessatmosphäre  des BCC habe ich jedenfalls als wenig inspirierend empfunden. Trotz allem „Wenn und Aber“: Hier sollte nachgebessert werden. Zumal die Präsentationen in den Sälen teilweise von weiter hinten überhaupt nicht mehr zu entziffern und die Workshopräume nach guter alter re:publica Tradition wegen Überfüllung teilweise nicht mehr zugänglich waren. Aber das war schließlich nur der Rahmen, am Ende zählen die Inhalte.

Print is dead – it‘s an app‘s world

Nicht selten äußerten Teilnehmer, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich mit Hilfe des gedruckten Programms zu orientieren oder überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es in diesem Jahr bei der NEXT eigentlich gehen soll. Das Motto „Here Be Dragons“ (übrigens lesenswert interpretiert von meiner Kollegin Lea Weitekamp) konnte da kaum Aufschluss liefern. Wer sich jedoch – wie es für eine Digitalkonferenz üblich sein sollte – mit der Konferenz -App ausstaffiert hatte, konnte nur verständnislos die Achseln zucken. Die Bizzabo-App ist – um es kurz zu machen – fast perfekt. Schnelle Orientierung, Markierungs-, Kalender- und Netzwerkfunktionen sind übersichtlich und sinnvoll umgesetzt. Man erhält Hintergründe zu den Tracks, Talks und Sprechern und kann sich schnell via App, Twitter oder LinkedIn mit Sprechern oder Teilnehmern vernetzen.

Meine Empfehlung: Das Printprogramm beim nächsten Mal einfach weglassen – WER braucht das? Stattdessen lieber ein paar Displays mit dem aktuellen Überblick in den Gängen platzieren. Das scheint mir irgendwie angemessener. Die Kollegen von people interactive oder Moccu (Disclosure: beides unsere Kunden) helfen bestimmt gern aus;-)

Ein Abgesang auf Disruption

Das Programm war qualitativ sehr wechselhaft – da bildet die NEXT keine Ausnahme in der Konferenzlandschaft. Der Auftakt mit Marina Gorbis (Institute for the Future) war gelungen, hat sie doch einen schönen Rahmen abgesteckt für das, was folgen sollte. Ihre wesentliche Botschaft, dass „Socialstructuring“ die institutionelle Produktion abzulösen beginnt, hat sie anschaulich und nachvollziehbar rübergebracht. Allerdings ohne dabei immer wieder den leider viel zu oft und unreflektiert ins Spiel gebrachten Begriff der Disruption zu penetrieren. Wohltuend. Das sollten andere Sprecher schließlich noch zu Genüge nachholen. Vielmehr geht es Gorbis darum, dass Transformationstechnologien und -produkte Menschen in die Lage versetzen müssen, bestehende Strukturen und Prozesse flexibler zu gestalten. Ähnliche Aussagen habe ich hie und da auch an anderer Stelle vernommen. Möglicherweise ein Indiz, dass die Spitze des Gartner Hypecycles in punkto Social Web inzwischen überschritten ist und Realismus einsetzt.

Magenta ist bunter als weiß

Die illustre, von ZEIT-Online Chef Jochen Wegner bisweilen spitzzüngig moderierte „Dragonslayer“-Runde mit Matthias Schmidt-Pfitzner (Deutsche Telekom), Peter Rampling (Telefónica) und Stan Sugarman (G+J) war meiner Auffassung nach trotz tadellosem Englisch vergleichsweise „deutsch“. Die taufrische Ankündigung der Telekom, die Flatrates abschaffen zu wollen sowie der Umstand, dass die NEXT die erste große Digitalkonferenz nach Absegnung des Leistungsschutzrechtes war, haben das wohl indirekt befördert. Dennoch ging es unterhaltsam und pointiert zu. Das sah bei anderen Vorträgen und Panels leider ganz anders aus.

Die Talks zum Service Design und zum State of the Art in punkto Kreativität haben mir den weißen Saal so abspenstig gemacht, dass ich ihn am zweiten Tag komplett gemieden habe. Die Themen waren eigentlich vielversprechend, aber leblos vorgetragen. Was angesichts der nüchternen Atmosphäre zum echten Showstopper mutierte. Umso weniger verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es mit der NEXT Service Design eine eigene Konferenz zum Thema gibt. Die Abstimmung mit den Füßen ließ nicht lange auf sich warten. Zur Hälfte des zweiten Panels dürfte noch etwa ein Drittel der Teilnehmer anwesend gewesen sein.

Der Aha-Effekt: Big Data braucht Stories, Design und Plot

Ausdrücklich loben möchte ich den Workshop von Klaas Bollhoefer, Data Scientist bei The Unbelievable Machine und Initiator des 4. Data Science Day in Berlin am 26. April, zum Thema Data Science Process Model. Zum Einen lieferte er einen fundierten theoretischen Einstieg mit einem Überblick über die verschiedenen Phasen, Akteure und Perspektiven bei Big Data Projekten. Zum Anderen konnte er aber vor allem mit praktischen Beispielen aufwarten, die bei den Teilnehmern letztlich zu der von Bollhoefer im Zusammenhang mit Data Science propagierten „Aha Experience“ geführt haben dürfte. Leider war der Workshop-Raum sehr klein. So klein, dass ich einen der folgenden Workshops (PR for StartUps – man lernt schließlich nie aus) erst gar nicht mehr besuchen konnte.

Nerd For President: Harper Reed rockt die NEXT

Versöhnt wurde ich – wie wohl die meisten anderen Teilnehmer – letztlich durch die Closing Keynote von Harper Reed, als Chief Technology Officer für die Entwicklung der wohl durchdachtesten, politischen Online-Kampagne „Obama For America“ verantwortlich. Immer wieder hatte der „King Of Nerds“ Lacher, Staunen und Applaus auf seiner Seite. Was er zu sagen hatte, war für erfahrene Kongressbesucher sicher nicht völlig neu – selten aber wohl so unterhaltsam und konkret belegt. Für mich ein echtes Highlight der letzten Kongressjahre.

Ich würde mir wünschen, Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der mittags in seiner Ansprache an die Community übrigens in fehler- und fast akzentfreiem Englisch parlierte und wie immer seine Schlagfertigkeit demonstrierte, würde sich von Reed inspirieren lassen in seinen Wahlkampfbemühungen. Mit seinem Vorredner Stephen Wolfram, auf seine Art auch ein Nerd – nur eben gesetzter, konnte der SPD-Mann wohl wenig anzufangen wissen (worin er sich von nicht eben wenigen Zuhörern vermutlich kaum unterscheidet). Inhaltlich dürfte Steinbrück der Auftritt bei der NEXT die eine oder andere Sympathie verschafft haben. Ein klares Bekenntnis zu Infrastruktur, Ausbildung und Unternehmertum – auch nicht wirklich neu, aber für mich glaubwürdiger aus dem Munde dieses Mannes als die Lippenbekenntnisse einer Frau Merkel.

Die Aktivierung des mündigen Bürgers

Steinbrück hätte sicher auch gefallen, was Dan Hill (Fabrica) den NEXT Besuchern am zweiten Tag zu erzählen hatte. Der „Designer und Urbanist“ brachte eine Reihe von Beispielen, warum Institutionen, die ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert haben, offenbar nicht mehr in der Lage sind Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Er zeigte auf, wie sich mündige Bürger engagieren und vernetzen und letztlich institutionelle Krisen in vielen gesellschaftlichen Bereichen (Politik, Verwaltung, Bildung) auslösen. Er stieß mit seiner Forderung in das gleiche Horn wie Marina Gorbis: Wir brauchen ein Redesign (keine Abschaffung!) der Institutionen und der Entscheidungsfindung. Aktive Bürger, soziale Netzwerke und die Dynamik der Prozesse, die letztlich den Arabischen Frühling oder die Occupy-Bewegung hervorgebracht haben, sind hierfür nötig. Ein wirklich sehenswerter Vortrag, der durchaus mehr Publikum verdient gehabt hat.

Robert Scoble – King Of Gadgistan

Dass sich die Teilnehmer zwischenzeitlich verteilt und nicht etwa die Konferenz schon verlassen hatten, offenbarte sich als Robert Scoble die Bühne betrat. Wenn Reed der „King of Nerdistan“ ist, dann ist Scoble so etwas wie der „King of Gadgistan“. Es dürfte kaum ein digitales Gadget in den letzten Jahren gegeben haben, insbesondere wenn es um Apps oder sog. „wearable“, also am Körper tragbare oder in die Kleidung integrierte Gadgets geht, die er nicht ausgiebig getestet hat. So war es kaum verwunderlich, dass er die Bühne ausgerüstet mit den Google Glasses betrat. Und nicht nur das. Nachdem er bereits vor seinem Vortrag die Brille von einem Teilnehmer zum nächsten wandern ließ, rüstete er auf der Bühne auch Science-Fiction Autor Bruce Sterling mit der Datenbrille aus. Sterlings Kommentar: „Cute device!“ – besser hätte das kein Regisseur inszenieren können.

Das Fazit

Die NEXT Berlin 2013 hatte einige wirklich besondere Momente, in denen sie die Teilnehmer mitreissen konnte. Das sprachliche Niveau – alle Vorträge waren in mehr oder weniger akzentfreiem Englisch – übertraf dabei leider immer wieder mal das Niveau der Vorträge. Das war insbesondere deshalb schade, weil die Schwerpunktthemen und auch die Inhalte der Vorträge per se gut gewählt waren. Die Performance einiger Sprecher hat das leider unterminiert. Der Networkingaspekt, die Highlights und das 4:0 der Bayern auf der Leinwand der NEXT Party haben das am Ende aufgewogen. Nur wird es der Fußballgott in den nächsten Jahren mitunter nicht immer so gut mit den Organisatoren meinen. Daher ist das Team gut beraten mit der richtigen Location und Sprecherauswahl (Rehearsals und Coaching á la TEDx Events wären vielleicht ein Weg?) für die richtige Atmosphäre und Stimmung zu sorgen. Der Grundstein ist gelegt. Die Akzeptanz auf Sprecherseite ist meines Erachtens deutlich gestiegen, das Publikum zunehmend europäisch. Nun braucht die NEXT „nur“ noch die besten Sprecher der Digital- und Kreativszene Europas auf der Bühne – damit es nicht immer die Amerikaner rausreissen müssen. Gut, dass das auch auf Kuratorenseite schon erkannt wurde.

Fotomaterial: nextconference (CC by)

P.S.: Meine Kollegin Lea Weitekamp wird in weiteren Blogbeiträgen noch auf andere Schwerpunkte sowie den Abschluss des zweiten Tages eingehen und ihr persönliches Fazit ziehen.

Disclosure: pr://ip hat die NEXT 2011 und 2012 kommunikativ beraten und betreut und unter anderem das internationale Blogger-Netzwerk rund um den Event aufgebaut.

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