1. Oktober 2025

Zwischen David und Goliath: Was ich beim Digital Summit über Europas digitale Zukunft gelernt habe

Digital Summit 2025 - Europas digitale Zukunft

200 IT-Entscheider im IHK-Bildungszentrum Münster, draußen kühles Herbstwetter, drinnen hitzige Debatten – der Digital Summit NRW 2025 hatte es in sich. Als ich die Bühne für die Podiumsdiskussion betrat, wusste ich: Diese 45 Minuten würden intensiv werden. Den Bogen für das Spektrum an unterschiedlichen Perspektiven hatten zuvor schon Manuel “Honkhase” Atug (AG KRITIS) und Prof. Dr. Klemens Skibicki (Profski) gespannt. 

Die Frage, die mir unter den Nägeln brannte

„Europas digitale Zukunft: Unabhängig oder bereits abgehängt?“ – schon der Titel unserer Diskussion suggerierte, dass wir uns keine Illusionen machen sollten. Meine erste provokante Frage an die Runde: Wenn unsere kritische Infrastruktur so kritisch ist, warum behandeln wir sie dann wie einen Windows 95 Rechner, den keiner mehr anfassen will?

Die Reaktion von Manuel Atug ließ nicht lange auf sich warten. Der Mann von der AG KRITIS, der schon in seiner Keynote düstere Szenarien gezeichnet hatte, legte nach: Unsere digitale Abhängigkeit sei längst Realität. Aber was mich wirklich aufhorchen ließ: Seine Analyse der systematischen Deindustrialisierung. Putzmeister, AEG, KUKA – alles in asiatischer Hand. „Und da ist noch nicht mal die USA erwähnt worden“, fügte er trocken hinzu.

Der Draghi-Schock als Weckruf

750 Milliarden Euro jährlich, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas binnen drei Jahren wiederherzustellen – als ich diese Zahl aus dem Draghi-Report zitierte, sah ich in einige ungläubige Gesichter im Publikum. Das Bruttoinlandsprodukt der Niederlande, jedes Jahr zusätzlich nötig, um nicht abgehängt zu werden. Und während wir noch diskutieren, beherrschen Amazon und Microsoft bereits 70 Prozent des Cloud-Marktes.

Klemens Skibicki, als Wirtschaftshistoriker nicht zuletzt aus Social Media als scharfer Analytiker bekannt, brachte es auf den Punkt: „Souveränität heißt entscheiden können.“ Sein historischer Vergleich zu Preußen 1806 und Deutschland 1948 traf einen Nerv – brauchen wir wirklich erst eine Katastrophe, um aufzuwachen?

Digital Summit 2025 - Panelmoderation Christoph Salzig

Bild: ©Thomas Mohn


Die Schweizer Perspektive: Pragmatismus statt Panik

Andrea Wörrlein (VNCLagoon) aus der Schweiz überraschte mich mit ihrer fast heiteren Gelassenheit angesichts der düsteren Szenarien. „Seit November letzten Jahres rufen uns die Kunden an und sagen: Ich habe ein Problem“, berichtete sie. Der Unterschied zu früher? „Früher musste ich zu ihnen gehen und ihnen erklären, dass sie ein Problem haben.“

Ihre Unterscheidung zwischen Souveränität und Autonomie fand ich besonders spannend. Autonomie als unternehmerisches Handeln – das klang nach Lösungen, nicht nach Lähmung.

Der Hoffnungsschimmer aus der Verwaltung

Lutz Niemeyer vom ZenDiS brachte konkrete Zahlen mit: 80.000 aktive Open-Desk-Lizenzen in der Verwaltung, über 2.000 Anfragen an das ZenDiS in den letzten Monaten. Als die Diskussion um das gescheiterte Münchner Linux-Projekt aufkam, wurde es richtig hitzig. „Technologisch gescheitert!“, rief Wörrlein. „Politisch gescheitert!“, konterte Niemeyer.

Diese Uneinigkeit zeigt: Die Wunden alter Projekte und Fehler sitzen tief. Aber vielleicht ist genau das der Punkt – wir müssen aus den Fehlern lernen, statt sie zu wiederholen.

Gaia-X: Wie man ein Projekt killt, bevor es startet

Als wir auf den Versuch, eine europäische Cloud-Infrastruktur mit Gaia-X auf den Weg zu bringen, zu sprechen kamen, wurde Manuel Atug richtig bissig. Seine Schilderung, wie Palantir sich als Mitglied ausgab, bevor das Konsortium überhaupt gegründet war, und niemand einschritt – das war symptomatisch. „Schafe und Wölfe an einem Tisch – what could possibly go wrong?“, kommentierte er sarkastisch.

Der Reality Check

Mein kleines Experiment mit dem Publikum war ernüchternd: Fast alle arbeiten mit Microsoft 365. Aber auf meine Frage, wer bereit wäre umzusteigen, selbst wenn es mehr kostet, blieben die Hände größtenteils unten. Und beim neuen Digitalminister? Gerade mal fünf bis sechs Optimisten, die sich einen “Digitalisierungsschub” versprechen.

Diese Kluft zwischen Erkenntnis und Handeln – sie zog sich bisweilen wie ein roter Faden durch die gesamte Veranstaltung.

Die 750-Milliarden-Euro-Frage

Meine Abschlussfrage nach der Verwendung von 750 Milliarden Euro brachte auf dem Podium zumindest überraschende Einigkeit: Nicht mehr Geld in Projekte pumpen, sondern erst die Hausaufgaben machen. Atug: „Sinnlose Regulatorik weg!“ Skibicki: „Rahmenbedingungen schaffen!“ Wörrlein: „Level Playing Field!“ Niemeyer: „Europäischen Konsens finden!“

Was ich gelernt habe – und was der Mittelstand daraus machen sollte

Nach dieser intensiven Debatte war mir klar: Die Lösung kommt nicht von oben. Die Politik wird’s nicht richten – diese Botschaft war eindeutig. Aber was heißt das konkret für mittelständische Unternehmen?

Meine Empfehlungen aus der Diskussion:

  1. Jetzt handeln, nicht warten
    Die Message war eindeutig: Wer auf politische Lösungen wartet, hat schon verloren. Die Zeit des Aussitzens ist vorbei.
  2. Die eigenen Kronjuwelen schützen
    Unternehmens-Know-how gehört nicht in fremde Clouds. Local (Responsible) AI und Confidential Computing sind keine Zukunftsmusik mehr – sie sind verfügbar.
  3. Open Source ernst nehmen
    Die Zeiten, in denen Open Source nach Bastelei im Nerd-Keller klang, sind vorbei. Die Lösungen sind professionell und ausgereift.
  4. Das Spezialwissen zur Waffe machen
    Der deutsche Mittelstand hat einzigartiges Branchen-Know-how. Dieses zu digitalisieren und für eigene KI-Modelle nutzbar zu machen – das ist der eigentliche Wettbewerbsvorteil.
  5. Den Elefanten scheibchenweise essen
    Nicht alles auf einmal. Pragmatische Schritte, dezentrale Lösungen, europäische Partner – der Weg zur digitalen Autonomie ist machbar.

Als ich nach der Diskussion von der Bühne stieg, war ich nachdenklich. Ja, die Lage ist ernst. Die digitale Abhängigkeit Europas ist real. Aber die Diskussion hat auch gezeigt: Es gibt Wege raus aus der Abhängigkeit. Sie erfordern Mut, Investitionen und vor allem: den Willen zum Handeln. Was bitteschön ist Unternehmertum denn sonst?

Die Frage ist nicht mehr, ob wir digital souverän werden müssen. Die Frage ist nur noch: Schaffen wir es rechtzeitig?

Picture of Christoph Salzig

Christoph Salzig

Primus Inter Pares bei pr://ip. War lange Pressesprecher des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW). Ist Berater, Transformationsbegleiter, Moderator, Referent und Kommunikationstrainer. Gibt sein Wissen auch als Dozent an der Uni Münster weiter. Liebt Klartext, die Natur, das Leben und den Effzeh.

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